Der Greif by Wolfgang und Heike Hohlbein
Autor:Wolfgang und Heike Hohlbein [Hohlbein, Wolfgang und Heike]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fantasy
Herausgeber: Ueberreuter
veröffentlicht: 2017-01-14T23:00:00+00:00
ZU HAUSE BEI YEZARIAEL
Der Tunnel war anders als der, in dem sich Mark wiedergefunden hatte, als er aus Dr. Mertens Villa geflohen war – seine Wände waren nicht gemauert, sondern offenbar mit groben Werkzeugen direkt aus dem gewachsenen Fels herausgeschlagen worden, und auf dem Boden hatte sich fauliges Wasser gesammelt, sodass sie manchmal durch knöcheltiefe Pfützen waten mussten. Der Gestank nahm Mark fast den Atem. Es war nicht vollkommen dunkel, wie überall im Turm herrschte auch hier eine vage graue Helligkeit, die aus keiner bestimmten Quelle zu kommen schien. Aber sie war so matt, dass Mark mehr als einmal gegen ein Hindernis prallte und sich schmerzhaft Kopf oder Schultern anstieß.
Nachdem sie eine Weile durch den niedrigen Gang gelaufen waren, blieb Mark stehen und sah sich um. Vor und hinter ihnen erstreckte sich nichts als graue Endlosigkeit. Für einen Moment musste er gegen den furchtbaren Gedanken ankämpfen, dass dieser Tunnel vielleicht keinen Ausgang hatte. Was, wenn er endlos so weiterführte und sie laufen konnten, bis sie vor Hunger und Erschöpfung zusammenbrachen, ohne jemals einen Ausgang zu finden?
Er schüttelte die Vorstellung ab. Dieser Tunnel war künstlich angelegt worden. Er musste irgendwohin führen.
Sie gingen weiter. Ihre Schritte erzeugten platschende Laute in dem Wasser auf dem Boden, und die Wände warfen die Geräusche unheimlich verzerrt und hallend zurück. Mark schauderte. Das Wasser war längst in seine Schuhe geflossen und er begann die Kälte unangenehm zu spüren. Fast bedauerte er jetzt, Yezariael den Parka gegeben zu haben. Aber natürlich brauchte der Gehörnte das Kleidungsstück im Moment viel dringender als er.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Pesser«, antwortete Yezariael. »Jesst bin iss wieder Ssu Hauße.«
Mark verstand. Offensichtlich erholte sich der Gehörnte schnell, wenn er in der Welt war, aus der er stammte. Mark fragte sich, ob das umgekehrt bei ihm auch funktionieren mochte. Aber diese Frage war im Grunde überflüssig; wenigstens so lange, bis er herausgefunden hatte, in welche dieser beiden Welten er überhaupt gehörte.
Sie mussten eine Stunde, vielleicht auch länger, durch den unterirdischen Gang gegangen sein, als die Tür vor ihnen auftauchte. Sie ähnelte der, durch die sie den Stollen betreten hatten, war aber um etliches größer, und helles Sonnenlicht sickerte durch die Ritzen zwischen den groben Balken. Mark ging schneller, aber dann zögerte er, die Hand nach dem Riegel auszustrecken. Die Verlockung war groß: Nur noch ein Schritt und er war wieder in der Welt des Schwarzen Turms, jenem verlorenen Paradies, das ihm viel verlockender vorkam als seine Welt, in der er von allen nur gejagt wurde. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass er den Greif nur von seiner, Marks, Welt aus besiegen würde. Der Greif war ein Geschöpf des Turms. Er konnte ihn nicht schlagen, wenn er ihn auf seinem ureigensten Terrain stellte.
»Forauf farteßt tu?«, fragte Yezariael. »Mir isst kalt!«
»Mir auch«, antwortete Mark, rührte sich jedoch nicht. »Aber ich muss zurück in meine Welt.«
Erstaunlicherweise widersprach Yezariael nicht. Er nickte und ein trauriger Schimmer erschien auf seinen Zügen. »Iss ferstehe«, sagte er. »Tu kannst hier nisst lepen. Ssofenik fie iss pei euß.«
»Du –« Mark sah überrascht auf.
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